Die Zeitung, die aus dem Gezwitscher kommt

Twitter wandelt sich vom sozialen Netzwerk zum Nachrichtendienst

Twitter ist barer Unsinn, Kakofonie, «eine endlose Wurst an Textschnipselchen, die ungeordnet übereinanderstehen» («Das Magazin»). Woher nehmen die Leute die Zeit, ihre konzentrierten Banalitäten zu verbreiten? Und warum genau braucht die Welt so was? So denken viele über den Kurznachrichtendienst Twitter. Für andere ist die Plattform der digitale Newskanal der Zukunft. Das ist nicht ganz einfach zu verstehen. Versuchen wir es trotzdem.

Die Macher des 2006 gegründeten Dienstes haben Twitter überholt und führen «NewTwitter» in diesen Tagen weltweit schrittweise ein. Der zentrale Unterschied zur alten Version ist, dass Bilder und Videos besser eingebunden sind. Fotos und Videos, auf die in einer Kurzmeldung von höchstens 140 Zeichen, einem so genannten «Tweet» verwiesen wird, können neu in einer Seitenspalte direkt angezeigt werden. Das war bisher nur über eine Umleitung auf fremde Anbieter wie Yfrog oder Twitpic möglich.

In den USA sehen Medienwissenschaftler in dieser Weiterentwicklung Potenzial. Megan Garber vom Nieman Journalism Lab der Harvard Universität schreibt in einem Blogeintrag, dass Twitter dadurch noch wichtiger werde als Newskanal. Zum einen werde der Dienst für den Leser benutzer- und lesefreundlicher. Zum anderen finde aber auch ein Wandel statt vom Kommunikationsinstrument zwischen Freunden zu einem Medium, einem Infokanal. «Tweets waren immer kleine Geschichten-Krümel, aber jetzt haben sie den Charakter kleiner Newsartikel.»

Schon heute wird Twitter eher als Nachrichtenmedium eingesetzt denn als soziales Netzwerk. Koreanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass mehr als 85 Prozent der untersuchten Tweets newsbezogen sind.

Im Vergleich zum sozialen Netzwerk Facebook mit 500 Millionen Mitgliedern ist Twitter mit 145 Millionen klein. Noch wenig verbreitet ist der Dienst in der Schweiz: Während 2,3 Millionen bei Facebook sind laut Bernet PR, also gut 30 Prozent der Bevölkerung, besuchten im August laut Comscore lediglich 183 000 Schweizer mindestens einmal Twitter.com. Nicht gezählt sind Besucher, die den Dienst über andere Plattformen ansteuerten.

Dabei hat Twitter eine grosse Stärke: Anders als andere soziale Netzwerke setzt es auf einseitigen Austausch. Man muss nicht mit jemandem befreundet sein, um dessen Nachrichten zu lesen, sondern kann sie abonnieren, ohne dass der Sender das bestätigen muss. Dieses «Jemandem folgen» ist im Prinzip wie das automatische Abrufen von Nachrichten. Statt dass man mehrmals täglich eine Newsseite ansurft, melden die Seiten via Twitter, wenn es etwas Neues zu lesen gibt.

Früher wurde dazu der Dienst RSS erfunden und RSS-Reader wurden als Nachrichten-Tools der Zukunft gefeiert. Doch ihre Nutzung ist in den letzten Jahren so stark eingebrochen – Google Reader verliert laut «PCWorld» jährlich 27 Prozent Traffic –, dass Branchenportale wie Techcrunch bereits den Tod von RSS ausrufen. Der Grund für die schwindende Nutzung: Immer mehr User sammeln Infos mit Twitter.

Dort hat sich in den Jahren ein sogenanntes Twitter-Universum entwickelt: Bei Twitter hat es viele Personen, die auf einem Gebiet Experten sind: Journalisten, Wissenschaftler, Techies, aber auch Filmstars, Musiker oder Sportler. Sie nutzen den Dienst, um wichtige Hinweise zu verbreiten. Das hat mit den Befindlichkeits-Tweets nichts mehr gemein. Die Kunst ist es nun, die «richtigen» herauszusuchen und zu abonnieren. Je besser einem das gelingt, desto qualitativ hochstehender ist der Nachrichtenstrom, den man gratis geliefert bekommt; quasi eine an die individuellen Interessen angepasste Zeitung.

Schon länger gibt es Dienste wie Paper.li und TwitterTim.es, welche die leserunfreundlichen Tweets samt Links und Bildern im Browser als Magazine aufbereiten; optisch unübertroffen tut dasselbe die iPad-App Flipboard. Mit Smartphone-Apps lässt sich Twitter auch unterwegs nutzen. Und die Funktion Retweet sorgt dafür, dass man wirklich wichtige Nachrichten nicht verpasst, sondern diese an der Oberfläche geschwemmt werden.

Twitter hat diese Woche auch schon ein neues Werbeformat angekündigt. Werbetreibende können sich in die Liste «Wem folgen» einkaufen, wo Twitter seinen Nutzern basierend auf deren bisherigen Abos weitere Accounts vorschlägt. Die Macher rechnen damit, dass Unternehmen schon bald mehrere Millionen Dollar auf der Plattform ausgeben werden.

Halten wir fest: Twitter produziert keine News, aber liefert die Infrastruktur dafür. Besonders Medienleute werden künftig immer weniger auf den Dienst verzichten können. «Twitter wurde zum peripheren Nervensystem», schreibt der Guardian-Journalist Charles Arthur. «Es sagt dir, was in der Welt läuft oder in deinem Interessengebiet.»

Mit «NewTwitter» hat Twitter seine Einfachheit verloren, die simple Text-Link-Struktur, die den Dienst von anderen Medien unterschied. «Das neue Twitter ist und bleibt vorläufig kein Ersatz für andere traditionelle News-Kanäle», sagt Michael Latzer, Leiter der Abteilung Medienwandel am Institut für Publizistikwissenschaft der Uni Zürich. «Aber die Attraktivität für das, was es ist, steigt» – und dies sei gerade auch für die Schweiz wichtig, wo die Verbreitung im Vergleich zu den USA deutlich hinterherhinke. (Mataharix)

 

So stellen Sie sich Ihre Themen zusammen

→ Eröffnen Sie auf Twitter.com einen Account.

→ Überlegen Sie, welche Experten, Medien für Sie von Interesse sind, suchen Sie sie über die Funktion «Leute finden», folgen Sie ihnen.

→ Schauen Sie, welchen Leuten Ihre Experten folgen – Sie finden unter den Gelisteten weitere interessante Quellen.

→ Über die «Leute finden»-Funktion finden sie unter «Interessen anschauen» zahlreiche Accounts zu bestimmten Themen.

→ Suchen Sie mit Twitter-Such-Tools mit Stichworten nach Leuten, die über ihr Interessengebiet twittern: hastags.org, tweetscan.com, http://search.twitter.com

 


© SonntagsZeitung; 03.10.2010; Seite 84